ENSEMBLE Nr. 2 - Oktober 2015 - page 7

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ENSEMBLE 2015/2 —– Dossier
beglückenden Erlebnis wird, das durch keinen
noch so vollkommenen Vortrag ersetzt werden
kann.
Jedes Element des Gottesdienstes kann musi-
kalisch – durch Gesang oder Instrumente – gestal-
tet werden. Wenn Wort und Musik eine sinner-
füllte Einheit bilden und einander ergänzen und
deuten, kann das sehr berührend sein.
Andere Kulturen ernst nehmen
Eine Schwierigkeit der gottesdienstlichen Musik-
praxis ist die Tatsache, dass sich die hörende und
singende Gemeinde aus ganz verschiedenen Men-
schen mit sehr unterschiedlichen Hörgewohnhei-
ten und Geschmäckern zusammensetzt. Anders
als im Konzert handelt es sich hier nicht um eine
musikalische «Szene» oder um einen Anlass für
Liebhaber einer bestimmten Musikrichtung. Die
Leute kommen in der Regel nicht primär wegen
der Musik, obwohl die Musik dann eine wichtige
Rolle spielt.
Wir haben einen unermesslichen Schatz an
guter Kirchenmusik. Ihn zu vergessen und zu ver-
nachlässigen, wäre fatal. Die Kirchenmusiker sind
dabei auch auf die Unterstützung von Pfarrerinnen
und weiteren kirchlichen Mitarbeitenden ange-
wiesen. Gemeinsam müssen und sollen wir auf
unserer überaus reichen kirchenmusikalischen
Tradition aufbauen, sie pflegen und als lebendiges
Erbe mit uns tragen. Wir dürfen aber auch jene
Menschen nicht vergessen, die mit Kirchenmusik
zunächst gar nichts anfangen können und denen
das Herz bei ganz anderer Musik aufgeht. Das ist
ein schwieriger Anspruch. Im Grunde ist es ein
Ding der Unmöglichkeit, allen gerecht zu werden.
Und allen zu gefallen, kann auch nicht das Ziel
sein. Hingegen muss es das Ziel sein, alle in ihren
Bedürfnissen und ihrer Kultur ernst zu nehmen.
So bleibt nichts anderes als stilistische Vielfalt, die
ganz bewusst gepflegt werden will. Das ist oft eine
Gratwanderung, aber auch ein Zeichen von Leben-
digkeit. Dabei ist ein Gedanke nicht unwesentlich:
Die meisten Menschen wollen das hören, was sie
schon kennen, das Vertraute gefällt und berührt.
Es gilt, darauf Rücksicht zu nehmen und sie trotz-
dem auch zu Fremdem, Ungewohntem hinzufüh-
ren. Denn neue Gedanken und andere Sichtweisen
bringen uns weiter. Wenn wir immer nur hören
wollen, was wir schon wissen, sind wir arm.
Der Kirchenmusiker oder die Kirchenmusikerin
ist zwar kaum in allen Stilen gleichermassen hei-
misch, aber er oder sie kann die musikalischen
Kräfte einer Gemeinde wahrnehmen und für die-
se fruchtbar machen. Das ist eine schöne, schwie-
rige, harzige und sehr befriedigende Arbeit. Viel-
leicht die wichtigste und zugleich eine der
schwierigsten Aufgaben der Kirche überhaupt ist
es, junge Menschen zu gewinnen und dazu zu
bringen, freiwillig und gern mitzumachen. Musik
ist dazu ein wunderbares Gefährt.
Tradition weist in die Zukunft
Ein weiterer wichtiger Träger des Gottesdienstes
ist traditionellerweise der Kirchenchor. Zwar sind
in der Vergangenheit viele Kirchenchöre ver-
schwunden. Durch die «Wiederentdeckung» der
Liturgie und ihres Sinngehaltes gewinnt jedoch
das liturgische Singen wieder an Bedeutung. Gu-
ten Chorleitenden kann es gelingen, ihre Chöre
dafür zu sensibilisieren. Und für diese bedeutet
es: Wir sind Teil der Gemeinde, wir haben etwas
zu sagen, wir haben eine Aufgabe.
Die Orgel gehört zum Vertrauten im Gottes-
dienst. Das ist zugleich ihre Stärke und ihre Schwä-
che. Für viele Leute ist sie ein verstaubtes Instru-
ment mit abgestandenem Kirchengeruch. Aber
sie ist mit ihrem tragenden Klang hervorragend
zur Begleitung des Gemeindegesanges geeignet.
Es gibt für sie – wie für die Chöre – einen unge-
heuren Schatz an gottesdienstlicher Musik. Man
könnte diese als «rituelle Musik» bezeichnen, wie
sie in fast allen Religionen und auch in christli-
chen Kirchen, besonders in den orthodoxen, ge-
pflegt wird. Da käme es niemandem in den Sinn,
«weltliche» Musik hineinzunehmen. In der refor-
mierten Kirche, gerade bei uns in der Schweiz, hat
sich das längst gewandelt, jedenfalls in den urba-
nen Gebieten. Das kann man begrüssen oder be-
dauern. Doch dieser Realität müssen wir uns stel-
len. Die Organisten und Kirchenmusikerinnen
selber sind es, die in den vergangenen Jahren und
Jahrzehnten viel dazu beigetragen haben, dass die
Orgel wieder anders wahrgenommen wird. Eine
Fülle populärmusikalischer Orgel- und Gottes-
dienstmusik ist entstanden, die Trennung zwi-
schen Kirchen- und weltlicher Musik ist längst
«Ja, die Sprache
selbst ist Musik:
Sie hat Melodie
und Rhythmus.»
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