ENSEMBLE Nr. 2 - Oktober 2015 - page 4

4
Dossier —– ENSEMBLE 2015/2
von Dora Widmer, Organistin und
Präsidentin Bernischer Organistenverband
Die Geschichte der menschlichen Kultur ist auch
die Geschichte der Musik. Singen ist einerseits ein
spielerischer Gebrauch der Stimme, andererseits
auch ein gehobenes Sprechen, Klang gewordene
Rede, die dem Gesagten zusätzliche Bedeutung
verleiht. Ja, die Sprache selbst ist Musik: Sie hat
Melodie und Rhythmus wie beispielsweise in der
Rufterz, dem «Befehlston», oder der ansteigenden
Sprachmelodie einer Frage. Bis heute kennen wir
den Sprechgesang, beispielsweise in Rezitationen
durch den Priester in der katholischen Kirche,
im Psalmodieren, im Alpsegen, überhaupt oft in
rituellen Situationen verschiedener Religionen.
Einfache musikalische Muster führten zu immer
differenzierteren und kunstvolleren Ausdrucks-
möglichkeiten. Instrumente, die vermutlich zuerst
perkussiv gebraucht wurden, kamen dazu wie die
Werkzeuge im täglichen Leben. Geblieben ist der
Musik in ihrer ganzen Vielfalt die Eigenschaft, dass
sie «etwas sagt», ausdrückt, kommuniziert und
damit anspricht, berührt, Musizierende und Hö-
rende verbindet, aber auch abstösst, erschreckt
oder erschüttert. Sie spricht allerdings nicht eine
exakt definierte Sprache. Sie wird vielmehr immer
wieder neu und anders aufgenommen, wahrge-
nommen und interpretiert. Je nach Sinnzusam-
menhang, Situation und musikalischer Sozialisa-
tion der Hörenden spricht sie unterschiedlich,
eben nicht primär in Worten, sondern unmittel-
barer und unkontrollierbarer. Sie hat einen sub-
versiven Aspekt, kann aber auch instrumentali-
siert und manipulativ eingesetzt werden.
Ein Zeichen grosser Geisteskraft
Musik war von Anfang an integraler Bestandteil
des christlichen Gottesdienstes, denn sie war es
ja auch im jüdischen. Ihre Wechselwirkung mit
dem gesprochenen Wort hat eine grosse Kraft, und
so dient sie grundsätzlich immer der Verkündi-
gung, nimmt aber innerhalb des Gottesdienstes
verschiedene Funktionen ein: Dank und Lob, Ant-
wort, Bekenntnis, Meditation und Gebet, Ausdruck
von Lebensfreude oder Trauer, Ekstase oder An-
klage, Trost und Zuspruch.
Der reformierte Gottesdienst ist ein Weg mit
verschiedenen Stationen, er folgt einer Richtung,
einer Dramaturgie. Jedes Element der Liturgie hat
seine Bedeutung. Der erste und wichtigste Träger
des Gottesdienstes ist die Gemeinde. Der Gemein-
degesang, beziehungsweise das gemeinsame Sin-
gen, ist die erste und wichtigste Musik im Gottes-
dienst. Es braucht jedoch oft Fingerspitzengefühl,
um die Menschen zu einem frohen Singen hinzu-
führen. Die Gemeindemitglieder müssen sich
durch eine adäquate Begleitung getragen und
geführt fühlen. Es ist aber ein Zeichen grosser
Geisteskraft, wenn das gemeinsame Singen zum
Musik ist seit jeher ein fester Bestandteil in
der Liturgie christlicher Gottesdienste.
Musik verbindet und hat gemeinsam mit
dem Wort eine sinnstiftende Kraft. Die
Herausforderung liegt darin, Menschen mit
unterschiedlichen Hörgewohnheiten
zusammenzubringen. Dazu müssen unter-
schiedliche Kulturen und Bedürfnisse ernst
genommen werden.
BAUSTEIN
LEBENDIGER
GEMEINDEN
MUSIK IN DER KIRCHE
PILIER D’UNE COMMUNAUTÉ
VIVANTE
LA MUSIQUE À L’ÉGLISE
1,2,3 5,6,7,8,9,10,11,12,13,14,...32
Powered by FlippingBook