ENSEMBLE Nr. / N° 65 - Mai / Mai 2022

10 Doss i er —– ENSEMBLE 2022 /65 Manuel Perucchi ist Theologe und Pfarrer in der Kirchgemeinde Muri-Gümligen. Er ist zudem Absolvent des Diplomlehrgangs Verbands-/NPO-Management am Institut für Verbandsmanagement (VMI) in Fribourg. Seine damit verbundenen Arbeitsschwerpunkte liegen in der Gemeindeleitung und -entwicklung. Er befasst sich intensiv mit Führungs- und Organisationsmodellen in Kirchgemeinden. ENSEMBLE sprach mit ihm über die Ansätze in seiner Diplomarbeit. Von Adrian Hauser Herr Perucchi, wer leitet die Kirche? Die Mitarbeitenden leiten recht viel, indem sie Ideen einbringen und Projekte vorantreiben. Je nachdem braucht es eine Einwilligung vom Kirchgemeinderat, aber ich glaube, sehr viel kommt von den Mitarbeitenden aus. Also so quasi von unten … Eigentlich schon. Die Kirche wird nicht im klassischen Sinne geleitet. Das vermisse ich manchmal auch etwas. Mehr Leitung würde aber voraussetzen, dass es ein gemeinsames Verständnis von Kirche gibt, ein gemeinsames Ziel. Da es viele unterschiedliche Auffassungen von Kirche gibt, sind es oft die Mitarbeitenden, die Dinge vorantreiben, dabei aber auch viele Möglichkeiten haben. Das kann sehr positiv sein. Aber es ist manchmal auch ein wenig unkoordiniert. So erlebe ich es wenigstens. Führung ist in der der Kirche kein grosses Thema, dessen man sich bewusst ist. In Ihrer Arbeit ist die Rede von der sichtbaren und der unsichtbaren Kirche. Können Sie mir erklären, wie das genau gemeint ist? Das Unsichtbare ist das, was uns antreibt, unser Grund, über den wir ja nicht wirklich verfügen können. Wir sind zusammen mit anderen Religionsgemeinschaften fast die einzige Non-ProfitOrganisation, die eine Art Sinnorganisation ist, die sich auf etwas bezieht, das sie letztendlich nicht wirklich definieren kann. Damit ist auch unsere Tradition gemeint, in der wir stehen und in der wir uns weiterentwickeln. Die sichtbare Kirche ist die konkrete Organisation. Wie beispielsweise unsere Kirchgemeinde hier vor Ort in Muri-Gümligen. Wir sind hier sichtbar, wir haben einen Auftritt, uns nimmt man wahr. Man traut sich aber nicht so recht hin zu einer definierten Struktur. Doch wir sind zu einer Institution mit vielen Mitarbeitenden geworden, in der es Strukturen, Gremien und öffentlich-rechtliche Rahmenbedingungen gibt. Wir müssen uns und unsere Arbeit organisieren, und manchmal habe ich den Eindruck, dies wird etwas tabuisiert. Man kommt dann schnell auf das Thema Hierarchien. Bei solchen Fragen ist man besonders in der Reformierten Kirche sehr zurückhaltend. Denn wir sind eine Institution, die basisdemokratisch aufgebaut ist. Was gibt der öffentlich-rechtlichen Status alles vor? Dass man die Leitungsgremien hat, die der Staat vorschreibt, also eine Kirchgemeindeversammlung als oberstes Organ, wo die wichtigen Geschäfte beschlossen werden, und einen Rat analog zu einem Gemeinderat, der die Exekutive ist und die Kirchgemeinde strategisch leitet. Die Kirchenordnung sieht zudem eine gemeinsame Gemeindeleitung von Kirchgemeinderat und Pfarramt mit Einbezug der anderen Ämter vor. Wir bewegen uns also in einem Rahmen, der einiges vorgibt, aber auch Spielräume lässt. Wo sehen Sie die Chancen und Gefahren bei solchen Rahmenbedingungen? Die Rahmenbedingungen verhindern, dass einzelne Leute alle Macht haben können. Die durch und durch demokratische Organisation führt auch zu einer gewissen Legitimation in der Gesellschaft. Gefahren sehe ich darin, dass der Eindruck entstehen könnte, innerhalb der öffentlichrechtlichen Strukturen sei nicht mehr so viel möglich. Aber eigentlich ist man ja sehr frei darin, wie man die Arbeit zusammen mit dem Rat organisiert. Klar, entscheidet der Kirchgemeinderat über gewisse Geschäfte. Aber unter den Mitarbeitenden selbst gibt es wenig Hierarchie. Das heisst aber nicht, dass man als Kirche gänzlich auf Strukturen und Hierarchien verzichten sollte. Es gibt zudem ja auch nicht nur Hierarchien als klassisches Führungsmodell, sondern auch neuere, agilere Organisationsformen, die meiner Meinung nach Potenzial haben. Was wäre eine solche agile Organisationsform? Als Kirche würde es uns sehr entsprechen, selbstorganisiert zu arbeiten, weil wir das auf eine Art ja bereits tun. Das heisst nicht, dass jeder F Ü H R U N G I N N E R H A L B D E R K I R C H E «Agile Organisationsformen haben Potenzial»

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc3MzQ=