ENSEMBLE Nr. / N° 54 - Dezember / Décembre 2020

9 ENSEMBLE 2020/54 —– Dossier langt eine lernende Haltung. Und zum Lernen ist man nur bereit, wenn man Hoffnung hat. Indem die Erprobungsräume Orte und Möglichkeiten zum Ausprobieren schaffen, entsprechen sie dem Zeit­ geist der «liquid modernity»: Nichts steht fest, alles ist von Versuch und Irrtum geprägt. Fehler sind erlaubt, sie werden als Lernfelder verstanden – die Kirche wird zur Hoffnungsgemeinschaft: «Nur so­ lange die Welt und die Menschen (...) sich in einem unabgeschlossenen Fragment- und Experimentier­ zustand befinden, hat irdische Hoffnung einen Sinn», lautet ein Ausspruch des evangelischen Theologen Jürgen Moltmann. Eine erste Auswertung Nebst dem Besuch von Erprobungsräumen stand auch eine Tagung der EKM auf dem Programm. Eine sozialwissenschaftliche Auswertung zeigte: Mehr als die Hälfte der Erprobungsräume werden von Familien, Kindern und Jugendlichen genutzt. Und mehr als ein Viertel des Publikums hatte zuvor noch nie Kontakt zur Kirche. Insgesamt erreichen die Erprobungsräume wöchentlich über 1500 Personen. Bei den Projekten handelt es sich vor allem um diakonische Angebote. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich konse­ quent an den Bedürfnissen der Menschen und ihrer Lebenskontexte orientieren. Einer unserer Gesprächspartner sprach gar von «sozialmissio­ narischer Tätigkeit». Die Auswertung ergab zudem, dass es vielen Engagierten wichtig ist, ein lebendiges, mündiges Christsein zu leben – jenseits aller schwerfälligen amtskirchlichen Strukturen: Die Hauptamtlichen wollen die Verantwortung mit den Ehrenamt­ lichen teilen und die Projekte gemeinsam mit ihnen leiten. Natürlich spielt auch die Verkündi­ gung eine grosse Rolle, sie kommt jedoch vor al­ lem in der Motivation der Engagierten zum Aus­ druck. Auffallend war, dass fast alle evaluierten Er­ probungsräume eine überregionale Ausstrahlung haben. Jedoch befassen sich nur wenige von ihnen mit der Erschliessung neuer Finanzquellen. Nach­ denklich stimmte uns, dass Fragen nach Gerech­ tigkeit oder nach der Verantwortung für die Schöpfung so gut wie keine Rolle spielen. An der Tagung gab auch die Frage zu diskutie­ ren, wie die sieben Kriterien der EKM zur Unter­ stützung der Projekte, etwa «die Förderung neuer Formen der Gemeinde Christi», bewertet und ein­ geordnet werden sollen; die ekklesiologischen Grundfragen stellen sich immer wieder neu. So fragte der katholische Theologe Hubert Schöne­ mann, der ehrenamtlich im Projekt «Engel am Zug» mitarbeitet, ob die Erprobungsräume nicht die Grenzen der Konfessionen sprengen würden – hin zu einer «Ökumene der Menschen guten Glau­ bens». Erprobungsräume seien soziale Netzwerke, also Sozialräume – und keine territorial organisier­ te Gemeinde. Reibung erzeugt Energie Natürlich haben die Erprobungsräume der EKM nicht nur Befürworter. Immer wieder kommt es zu Verteilkämpfen um die personellen und finan­ ziellen Ressourcen. Denn damit Neues entstehen kann, müssen die Ressourcen aus den klassischen Parochialstrukturen abgezogen werden. Der De­ zernatsleiter Christian Fuhrmann betonte, dass Konkurrenz förderlich, Rivalität hingegen hinder­ lich sei. Nicht selten stelle er wenig Konfliktbereit­ schaft fest, Konflikte würden so lange wie möglich verschwiegen. Doch Konflikte müssten sein. Ver­ suche man, Konflikte zu verhindern, sei eine lernende und fehlerfreundliche Grundhaltung nicht möglich. Die Lancierung von neuen Projekten sei aber immer nur in einem System möglich, dem auch die traditionellen Gefässe kirchlicher Handlungen angehören, führte Fuhrmann weiter aus. Diese seien wertvoll und dürften keinesfalls abgewertet werden. Erst sie ermöglichten Erprobungsräume. Diese benötigten jedoch «Welpenschutz». Neid sei eine kirchliche Form der Anerkennung, meinte er ironisch. Ausserdem sei es richtig und konsequent, erst jetzt zu überlegen, wie man die Erprobungs­ räume kirchenrechtlich verankern könnte. Als Personalgemeinden? Als Vereine? Als eigene Trä­ ger mit speziellem Leistungsauftrag? Erprobungs­ räume hätten keine institutionelle Macht, sie sei­ Das «Jesus-Projekt» der EKM bietet den Menschen in den Plattenbauten mit einer Tagesstätte, Streetwork-Ange­ boten und einem Kinderprogramm neue Perspektiven. Le «Jesus-Projekt» de l’EKM offre de nou- velles perspectives aux habitants des bâtiments en béton préfabriqués, avec une garderie, des offres de travail de rue et un programme pour les enfants. ©zVg Was bewegt die Kirche, sich auf den Weg zu machen?

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