ENSEMBLE Nr. / N° 42 - Oktober / Octobre 2019

4 Dossier —– ENSEMBLE 2019/42 Die Solidarität innerhalb von Familien ist abhängig davon, wie viel Freiraum die Gene- rationen einander lassen. Die derzeitigen gesellschaftlichen Trends wirken sich positiv darauf aus. Zu diesem Resultat kommt François Höpflinger, emeritierter Professor der Soziologie an der Universität Zürich. Von Susanne Thomann* Rund 30 diakonisch Arbeitende folgten der Ein­ ladung der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solo­ thurn zum Vortrag «Wandel der Familien – neue Generationenbeziehungen» im Rahmen der Reihe «Lunch am Puls». Referent Francois Höpflinger räumte als Erstes mit gängigen Vorurteilen auf, etwa mit der Meinung, die traditionelle Familie habe ausgedient. Im Gegenteil: Repräsentative Umfragen zeigten bei jungen Menschen einen klaren Trend zu traditionellen Werten wie Hoch­ zeit in Weiss, Treue und Kindern. Der gesellschaft­ liche Anteil an Singles liege unter 5 Prozent, und die Anzahl Kinder, die in Einelternfamilien auf­ wachsen, sei rückläufig. Auch die Beziehungen zwischen den Generationen seien besser gewor­ den, die gegenseitige Hilfe habe zugenommen. Späte Elternschaft Laut Höpflinger führt einerseits der gesellschaft­ liche Wandel und die damit verbundene Unsicher­ heit zur Aufwertung familialer Beziehungen, anderseits machte er die zunehmend späte Eltern­ schaft dafür verantwortlich. Haben 1970 noch die meisten Frauen im Alter zwischen 22 und 24 Jah­ ren erstmals geboren, so sind Erstgebärende heu­ te im Schnitt 32 Jahre alt. Die verkürzte produktive Lebenszeit führt dazu, dass Schweizer Familien nur noch ein bis zwei Kinder haben, was den Trend zur Kleinfamilie verstärkt. Gefahren dabei, so Höpflinger, seien die Überbewertung der Familie als intime Gemeinschaft und die Überbehütung der Kinder. Einengenden Familienverhältnissen wirke ent­ gegen, dass heute meist beide Elternteile arbeiten, nicht selten arbeiten müssen, um die Familie er­ nähren zu können. Dies öffne die Familien und erlaube den Kindern, in Spielgruppen, Kinder­ krippen und Tagesschulen Beziehungen ausser­ halb der Familie einzugehen und ihr soziales Netz zu erweitern. Autonomie fördert Solidarität Eltern-Kind-Beziehungen seien eher besser ge­ worden, sagte Höpflinger. Laut einer Umfrage der Weltgesundheitsorganisation WHO aus dem Jahr 2013/14 gaben in der Schweiz 85 Prozent der 11-jäh­ rigen Mädchen und 82 Prozent der Knaben an, mit den Eltern gut über heikle Dinge reden zu können. Im Alter von 15 waren es noch 77 Prozent der Mäd­ chen und 68 Prozent der Knaben. Familien seien, so Höpflinger, kinderfreundlicher als früher. Eltern agieren partnerschaftlicher und investieren viel in ihren Nachwuchs. Vernachlässigung und Ge­ walt sind rückläufig. Auch die Beziehung zu den Grosseltern hat sich gemäss Höpflinger verbessert. Gute Beziehungen gebe es vorab da, wo jede Familiengeneration au­ tonom sei. Höpflinger nannte es «Intimität auf Abstand». Heutige Grosseltern sind aktiv und selbstständig, leben ihr eigenes Leben und enga­ gieren sich. In einer Umfrage 2018 gaben 90 Pro­ zent der über 65-Jährigen an, enge Kontakte zu Kindern und Enkelkindern zu haben. Grosseltern leisten denn auch einen namhaften Beitrag an die Kinderbetreuung. Höpflinger bezifferte die von Grosseltern geleistete unbezahlte Arbeit mit rund 8 Milliarden Franken pro Jahr. Von diesem Einsatz WANDEL DER FAMILIEN NEUE GENERATIONENBEZIEHUNGEN FAMILLES EN MUTATION LES RELATIONS INTERGÉNÉRATIONNELLES ÉVOLUENT * Journalistin

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