ENSEMBLE Nr. 3 - November 2015 - page 7

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ENSEMBLE 2015/3 —– Dossier
Der Schweizer Anteil an allen seit Ausbruch des
Krieges in Europa von Syrern gestellten Asylgesu-
chen fällt unter zwei Prozent. «Um nach Europa
zu reisen, braucht es finanzielle Ressourcen und
man muss fit genug sein, um eine Chance zu
haben, die gefährliche Reise zu überstehen», er-
klärt Anja Klug. In ihren Augen kann man denn
auch nicht von einer allgemeinen «Flüchtlingskri-
se» sprechen. «Die Zahlen sind zwar gestiegen,
doch sie sind zu bewältigen. Die derzeitige Über-
forderung europäischer Staaten gründet eher da-
rin, dass gemeinsame Strategien fehlen.»
Bei der Einreise können die Betroffenen an der
Grenzkontrolle ein Asylgesuch stellen. Dies erfolgt
mündlich oder schriftlich und ist an keine Form-
vorschriften gebunden. Als Asylgesuch gilt jede
Äusserung einer ausländischen Person, mit der sie
signalisiert, dass sie in der Schweiz Schutz vor
Verfolgung sucht. Wer ein Asylgesuch stellt, muss
seine Identität offenlegen, die Asylgründe benen-
nen und diese nach Möglichkeit gleich schriftlich
belegen. Viele reisen gemäss SEM jedoch illegal
ein. Dies aus Furcht, dass sie an der Grenze zurück-
geschickt werden. «Illegal Einreisende sind in der
Regel ziemlich gut über das Asylverfahren infor-
miert und kennen die Adresse eines der Empfangs-
und Verfahrenszentren», erklärt Léa Wertheimer.
Diese Personengruppe reicht oft in einem dieser
Zentren ein Asylgesuch ein. Asyl- und Verfahrens-
zentren gibt es in Basel, Chiasso, Vallorbe, Altstät-
ten und Kreuzlingen. Aufgrund der letzten Asyl-
gesetzrevision, die Ende September 2012 in Kraft
trat, gibt es seit Anfang 2014 ein erstes nationales
Verfahrenszentrum in Zürich. Ziel dieses Betriebes
ist es, die Asylverfahren deutlich zu beschleuni-
gen, gleichzeitig aber einen wirksamen Rechts-
schutz zu garantieren. Die Asylgesetzrevision
wurde nach einer dreijährigen Testphase im Sep-
tember vom Nationalrat bestätigt.
Überfüllte Nachbarstaaten
Ein Schritt in die richtige Richtung? «Unbedingt.
Faire und effiziente Asylverfahren sind Vorausset-
zung für ein funktionierendes Asylsystem», sagt
Anja Klug. In der Schweiz erhalten grundsätzlich
alle Personen Asyl, die befürchten müssen, bei der
Rückkehr in ihren Heimatstaat gemäss den völ-
kerrechtlich anerkannten Kriterien verfolgt zu
werden. Wer allerdings nicht individuell von Ver-
folgung bedroht ist, sondern nur vor den generel-
len Kriegsfolgen flieht, erhält nur eine vorläufige
Aufnahme. «Die Schweiz ist relativ restriktiv mit
der Vergabe des Asylstatus für syrische Flüchtlin-
ge», kritisiert Anja Klug. Sie begrüsst hingegen,
dass die Schweiz im Rahmen von zwei Resettle-
ment-Programmen zwei Kontingente von je 500
und 2000 Schutzbedürftigen aus Syrien aufgenom-
men hat beziehungsweise aufnehmen wird. Lega-
le Möglichkeiten in die Schweiz zu kommen, ver-
hindern, dass schutzbedürftige Personen immer
grössere Gefahren auf sich nehmen müssen, um
nach Europa zu kommen. «Zur nachhaltigen Ver-
besserung der Lage sollten sich die europäischen
Staaten allerdings für eine politische Lösung der
Konflikte vor Ort einsetzen», erklärt Anja Klug.
Denn das Ziel sollte sein, dass Menschen gar nicht
erst zur Flucht gezwungen sind.
Hat eine Person grundsätzlich Chancen auf
Asyl, wird sie an einen Kanton überwiesen, der sie
darauf in einer Gemeinde unterbringt. Auf dieser
Stufe sollte die Integration möglichst rasch grei-
fen, und hier kommt die Zivilgesellschaft, nament-
lich auch die Kirchgemeinden, auf den Plan. Anja
Klug: «Die Zivilgesellschaft spielt beim Empfang
und bei der Integration eine wichtige Rolle. Wir
erhalten täglich Anrufe von Personen, die helfen
wollen!» Gemäss Anja Klug kann diese Unterstüt-
zung sehr vielfältig sein: Hilfe im Umgang mit den
Behörden, Sprachkurse oder einfach nur die Be-
gegnung mit Einheimischen. Es geht also um die
Schaffung einer Willkommenskultur, die in vielen
Kirchgemeinden bereits konkret gelebt und um-
gesetzt wird. Das ist genauso wichtig wie Frie-
densdiplomatie und Entwicklungshilfe vor Ort,
das Öffnen der Grenzen oder juristischer Schutz.
Nur wenn alle Massnahmen zusammenspielen
und greifen, kann das Leid der Menschen, das sie
zur Flucht zwingt, gelindert werden.
Mehrere Mi l l ionen
Flücht l inge bef inden sich
zurzeit in der Türkei ,
in Jordanien , Pakistan ,
im Libanon und im I ran .
Schriftsteller
und Arzt Khaled
Hosseini in einem
Flüchtlingscamp
im Irak.
L’écrivain et
médecin Khaled
Hosseini dans
un camp de réfu-
giés en Irak.
©UNHCR/B.Sokol
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