ENSEMBLE Nr. / N° 71 - Oktober / Octobre 2023

11 ENSEMBLE 2023/71 —– Dossier Ist es oft so, dass Opfer die Verantwortung auf sich nehmen? Ja, auf jeden Fall. Gerade wenn der Täter jemand ist, der einem sehr nahesteht oder von dem jemand sogar abhängig ist. Ein Abhängigkeitsverhältnis kann bestehen, wenn Gewalt vom Chef ausgeht und man auf den Job angewiesen ist. Oder es gibt auch die Situation, dass der Aufenthaltsstatus von Frauen mit Migrationshintergrund an den Ehemann geknüpft ist. Bei einer Scheidung besteht die Gefahr, dass solche Frauen die Schweiz verlassen müssen. Es gibt im Gesetz zwar eine Härtefallregelung, aber die ist sehr schwammig formuliert. Für einen Härtefall muss eine «gewisse erlittene Intensität» der Gewalt vorliegen. Was aber heisst das? Heisst dies, dass ein «bisschen» Gewalt in Ordnung ist? Was genau versteht man unter psychischer Gewalt? Psychische Gewalt können Beschimpfungen sein, jemand schlechtreden, ständige Kontrolle, Überwachung oder Stalking. «Gaslighting» ist auch ein Thema. Das bedeutet, dass jemand eine Situation herunterspielt und so die Betroffenen in der eigenen Wahrnehmung verunsichert. Jemand übt zwar Gewalt aus, stellt es aber gleichzeitig so dar, als würde dies gar nicht passieren. Für Betroffene ist es dann noch schwieriger, sich Hilfe zu holen, weil sie an ihrer eigenen Wahrnehmung zweifeln. Psychische Gewalt ist häufig von aussen unsichtbar. Sie hat jedoch schwerwiegende Folgen für die Betroffenen. Was kann eine Frau tun, die sich in einer solchen Situation befindet? Die wichtigste Anlaufstelle ist immer eine Opferberatungsstelle. Die gibt es in allen Kantonen. Oft kann man sich auch telefonisch beraten lassen oder per Chat. In Bern gibt es «AppELLE», das ist eine 24-Stunden-Hotline der Berner Frauenhäuser. Was kann man tun, um einen Gewaltkreislauf zu durchbrechen? Man sollte nicht nur mit den Betroffenen arbeiten, sondern gerade auch bei geschlechtsspezifischer Gewalt mit den Tatpersonen, um deren Rollenbilder zu verändern. Wir reden von geschlechtsspezifischer Gewalt, wenn das Geschlecht und die Ungleichheit aufgrund des Geschlechts bei der Ausübung von Gewalt eine Rolle spielen. Dabei fokussieren wir uns auf Frauen, die Täter sind allermeistens Männer. Es gibt natürlich auch Gewalt an Männern. Doch das ist nicht Bestandteil unserer Kampagne. Statistisch gesehen, sind Frauen ganz klar stärker betroffen. Wie häufig gibt es denn psychische Gewalt? Über 40 Prozent der Frauen in Europa sind betroffen von psychischen Gewalterfahrungen. Für die Schweiz haben wir leider keine genauen Zahlen. Es bräuchte unbedingt finanzielle Mittel für Studien, um solche Zahlen zu erhalten. Denn es ist schwierig, Präventionsarbeit zu leisten, wenn wir keine verlässlichen Zahlen haben. Was bräuchte es vonseiten der Behörden denn sonst noch, um die Situation zu verbessern? Ein wichtiger Schritt war die Istanbul-Konvention, die in der Schweiz 2018 in Kraft trat. In ihr wird sehr breit aufgezeigt, was es alles braucht, um geschlechtsspezifische Gewalt zu verhindern. Es geht um Prävention, Unterstützung, Schutz, Täterarbeit, finanzielle Mittel oder rechtliche Aspekte. Die Schweiz muss diese Konvention umsetzen, und wenn das alles umgesetzt ist, sind wir auf einem guten Weg. Eine Spezialität der Schweiz ist allerdings der Föderalismus und dieser zeigt Schwächen auf, weil es kantonale Unterschiede gibt. Einige Kantone sind bereits sehr weit, andere hinken hinterher. Je nachdem, wo eine betroffene Person in der Schweiz also lebt, erhält sie ein anderes Mass oder eine andere Form von Unterstützung. Das dürfte eigentlich nicht sein. Man sollte schweizweit darum bemüht sein, dass es genug Anlaufstellen und genügend finanzielle Ressourcen gibt. © Adrian Hauser Anna-Béatrice Schmaltz

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