ENSEMBLE Nr. / N° 68 - Dezember / Décembre 2022

28 Fokus —– ENSEMBLE 2022 /68 A S Y L S U C H E N D E Gleiches Schicksal – ungleiche Rechte Wer vor Krieg flieht, erhält in der Regel eine vorläufige Aufnahme. Nicht so ukrainische Geflüchtete: Für sie hat der Bund im vergangenen März erstmals den Schutzstatus S aktiviert. Dadurch entfachte er eine Diskussion zur Ungleichbehandlung zwischen verschiedenen Flüchtlingsgruppen. Von Selina Leu* Der Bund hatte im Frühling dieses Jahres alle Hände voll zu tun: In den Monaten April bis Mai baten täglich teilweise 1800 ukrainische Geflüchtete die Schweiz um Aufnahme – so viele, wie sonst in einem ganzen warmen Sommermonat. Der Bundesrat reagierte rasch auf diese hohe Zahl: Um das Asylwesen nicht zu überlasten, aktivierte er kurzerhand den Schutzstatus S; ein Status, der im Nachgang an den Jugoslawienkriegs geschaffen wurde, bisher aber noch nie Anwendung fand. Der Status S, bisher nur eine leere Hülse, musste daraufhin rasch mit Eckwerten, mit Rechten und Pflichten gefüllt werden. «Es war für uns in der Verwaltung eine grosse Herausforderung, weil nichts da war, nur ein paar einzelne Gesetzesbestimmungen», sagt Kathrin Buchmann vom Staatssekretariat für Migration. Kathrin Buchmann hat die Ausgestaltung des Status S massgeblich mitgeprägt. Die Aktivierung des Schutzstatus stiess allerdings Diskussionen rund um die Behandlung von anderen Flüchtlingsgruppen an. Denn während Menschen aus Syrien oder Afghanistan ebenfalls vor Krieg und teilweise sogar vor denselben russischen Bomben geflohen sind, erhalten sie in der Regel nur eine vorläufige Aufnahme. Mit schweren Folgen, wie das Beispiel Zaher Al Jamous zeigt: Seit sieben Jahren lebt die syrische Journalistin von ihrer Mutter getrennt. Die Sehnsucht nach ihr mache sie krank. Doch: Wer vorläufig aufgenommen ist, darf seine Kernfamilie – und darunter fällt die Mutter nicht – frühestens nach drei Jahren und auch dann nur unter schweren Bedingungen nachziehen. «Ich bin mittlerweile selbst Mutter und für mich ist klar, dass ich immer für meinen Sohn da bin, wenn er Sorgen hat. Aber ich selbst – ich habe niemanden», beschreibt Zahler Al Jamous ihre ausweglose Situation. Unter diesem Druck sei es für sie schwierig, sich auf ihr Leben in der Schweiz und auf die Arbeitssuche zu konzentrieren. Ukrainische Geflüchtete haben es vergleichsweise einfach: Sie können ihre Familie – auch dank der Visumsfreiheit – problemlos in die Schweiz nachziehen. Umstrittenes Reiseverbot Auch wenn gewisse Unterschiede gesetzlich erklärbar sind, wird die Ungleichbehandlung momentan breit diskutiert. Hilfswerke, Kirchen und Politikerinnen haben sich dazu geäussert. Denn: «Die Aktivierung des Schutzstatus S für Geflüchtete aus der Ukraine hat gezeigt, dass es auch anders ginge», sagt Carsten Schmidt, Leiter der Fachstelle Migration, an deren Jahrestagung, an der unter anderem auch Kathrin Buchmann und Zaher Al Jamous Gast sind. Anders ginge es aus Sicht von Carsten Schmidt zum Beispiel beim Thema Reisen: Ukrainerinnen können ihre Verwandten innerhalb des Schengenraums jederzeit besuchen. Vorläufig Aufgenommenen hingegen ist es untersagt, die Schweiz zu verlassen, es sei denn, es liegen gewichtige Gründe vor, zum Beispiel der Tod eines nahen Angehörigen. Aber die eigene Schwester in Deutschland besuchen, weil sie gerade ein Kind geboren hat? Fehlanzeige. Mit der Abschlussklasse auf Schulreise nach Rom gehen? Ebenfalls nicht möglich. Das eidgenössische Parlament hat das Reiseverbot für vorläufig Aufgenommene vergangenen Dezember beschlossen. Für Carsten Schmidt war dieser Entscheid primär eine populistisch motivierte Aktion und sollte vor allem ein klares Signal aussenden: «Gut informierte Kriegsflüchtlinge – und das sind die meisten – sollen sich gut überlegen, ob sie wirklich in die Schweiz einreisen wollen.» Besonders stossend für Carsten Schmidt: «Innerhalb der EU gibt es kein vergleichbares Verbot – und nennenswerte Probleme gibt es deswegen nicht.» Die Kinder leiden Für die Journalistin Zaher Al Jamous ist die gegenwärtige Ungleichbehandlung sehr belastend: «Es fühlt sich für mich an, als wäre ich Jahre zurückversetzt, als wäre ich gerade frisch in die Schweiz gekommen. Wie ein Trauma kommen alte Gefühle wieder und wieder hoch.» Auch für ihre Kinder sei die Situation schwierig; Zaher Al Jamous * Mitarbeiterin Fachstelle Migration

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