ENSEMBLE Nr. / N° 59 - Juni / Juin 2021

4 Doss i er —– ENSEMBLE 2021 /59 EINE KULTUR DER GASTFREUNDSCHAFT DEMENZ ALS ANSTOSS FÜR EINE NEUE SICHTWEISE AUF DEN MENSCHEN UNE CULTURE DE L’HOSPITALITÉ LA DÉMENCE, UNE INCITATION À PORTER UN NOUVEAU REGARD SUR LES PERSONNES Aktuell leben in der Schweiz rund 144 000 Menschen mit einer Demenz. Und die Tendenz ist steigend: Alzheimer Schweiz schätzt, dass infolge der gestiegenen Lebenserwartung bis 2050 über 315 000 Menschen an einer Demenz erkranken. Die medizinisch-pflegerische und soziale Betreuung von Menschen mit Demenz ist eine vordringliche gesundheitspolitische und gesellschaftliche Herausforderung. Von Renata Aebi und Pascal Mösli* Wovor fürchten sich Schweizerinnen und Schwei­ zer mit Blick auf ihr Alter am meisten? Das Berner Generationenhaus hat 2019 bei über 9000 Erwach­ senen in der Deutschschweiz eine Umfrage zum Alter durchführen lassen. Dabei zeigte sich, dass an Demenz oder Alzheimer zu erkranken die gröss­ te Angst der Befragten ist. Diese Sorge ist nicht unbegründet: Weltweit leiden circa 36 Millionen Menschen an einer De­ menz. Jede dritte Frau und jeder zweite Mann über 65 wird statistisch gesehen im Alter eine Demenz entwickeln. Laut Schätzungen des Weltalzheimer­ berichts werden bis 2030 weltweit mehr als 70Mil­ lionen Menschen von einer Demenz betroffen sein, bis 2050 gar 115 Millionen. Landläufig erscheint ein Leben mit Demenz gleichsam als Gegenbild zu allen Vorstellungen von einem «guten Altern». Die fortschreitende und unheilbare Beeinträchtigung der kognitiven Fä­ higkeiten, des Sprachverständnisses und des Orientierungsvermögens bedeutet denn auch eine besondere Verletzlichkeit, die besonderen Schutz verlangt. Gleichzeitig kann das Krankheitsbild aber auch Anstoss zu einer neuen Sichtweise auf den Menschen und seine Persönlichkeit sein: «eine Sichtweise, die nicht allein auf die kognitiven Per­ sönlichkeitsanteile fokussiert, sondern auch Qua­ litäten in Blick nimmt, die darüber hinaus Freude, Glück und Erfüllung bedeuten», so der Geronto­ loge Andreas Kruse. Dazu gehören auch spirituel­ le und religiöse Aspekte und Beheimatungen. Solche Ressourcen gilt es im Kontakt mit Men­ schen mit Demenz zu erschliessen. Die Erfahrung von Teilhabe und die aktive Mitgestaltung von Beziehungen seien dabei für das Wohlbefinden zentral, betont Kruse. Menschen mit Demenz ge­ hören zu uns. Auch der Soziologe und Theologe Reimer Gronemeyer hält fest: Es sei unsere Auf­ gabe, Menschen mit Demenz so gut wie möglich zu umsorgen, zu respektieren und, wenn möglich, zu Wort kommen zu lassen. Eine solche Sicht lade zur Schaffung einer Kultur der Gastfreundschaft ein: «Lebensorte von Menschen mit Demenz soll­ ten vor allem Orte der Gastfreundlichkeit sein.» Wie kann eine solche Kultur der Gastfreund­ lichkeit in einer Alters- und Pflegeinstitution kon­ kret aussehen und gestaltet werden? Was sind die Herausforderungen im Umgang mit demenzbe­ troffenen Menschen? Und welchen Beitrag können die Kirchen leisten? Wir haben Theres Meierhofer- Lauffer gefragt. Sie ist Leiterin des Alters- und Pflegeheims Erlenhaus in der demenzfreundlichen Gemeinde Engelberg in Obwalden und Co-Präsi­ dentin der Fachgruppe Palliative Care der Evan­ gelischen Kirche Schweiz. * Pascal Mösli ist Verantwortlicher Spezialseelsorge und Palliative Care, Renata Aebi Projektmitarbeiterin Spezialseel­ sorge und Palliative Care der Reformierten Kirchen Bern- Jura-Solothurn «Die Erfahrung von Teilhabe ist für das Wohlbefinden von Men­ schen mit Demenz zentral.» Andreas Kruse

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