ENSEMBLE Nr. / N° 54 - Dezember / Décembre 2020

15 ENSEMBLE 2020/54 —– Dossier Kirche und Digitalisierung spricht, muss man sehr genau hinschauen und differenzieren: Was ist das Ziel, und welches Medium ist dafür geeignet? Wie verändert sich die Kirche als Institution, wenn sie vermehrt digital unterwegs ist? Was sich verändert, ist, dass die Kirche auf allen Ebenen netzwerkartiger gedacht werden muss. Wir haben eine Netzwerkgesellschaft und immer stärker individualisierte Menschen, auch in Bezug auf ihre Religiosität. Die Menschen sind sich ge­ wohnt, sich beteiligen zu können. Es gilt, die Menschen in ihrer Form von Religiosität zu unter­ stützen. In den USA beispielsweise gibt es den Blog «Homebrewed Christianity», auf dem Menschen mithilfe von Videos und Podcasts ihre eigene Theo­ logie «brauen» können. Was sind die Gefahren? Dass sich die institutionalisierte Form von Kirche weiter auflösen wird. Ich glaube nicht, dass sie in 50 Jahren ganz verschwunden sein wird, aber die Tendenz geht in diese Richtung. Ebenfalls eine Gefahr oder vielmehr bereits eine Realität ist natürlich, dass im Netz jede und jeder schreibt, was er oder sie will, und dass dies nicht immer dem Leitbild oder den Grundsätzen der Landes­ kirche entspricht. Insofern stellen digitale Theo­ logien das traditionelle System einer normativen und deduktiven Theologie in Frage. Wie wirkt sich dies auf die Identität der Landes- kirche und den reformierten Glauben aus? Verviel- fältigen sich die Inhalte bis zur Beliebigkeit? Vielfältig waren die Inhalte immer schon. Die Menschen haben multiple religiöse Identitäten. Darum ist es wichtig, diejenigen, die im Netz unterwegs sind und eine reformierte Identität haben, zu stärken, um als Kirche mit einem klaren Profil im digitalen Raum präsent zu sein. Aber auch reformierte Religiosität und reformierter Glaube war schon immer plural. Es geht darum, diesen Aspekt als ein Identitätsfaktor zu stärken. Und sich gleichzeitig immer wieder zu fragen, was Kirche ist. Da haben viele Kirchen Nachhol­ bedarf. Viele Kirchenvorsteher können mir nicht sagen, was Kirche ist. Sie zeigen auf das Kirchen­ gebäude, verweisen auf ihre Angebote, die Pfarr­ person. Lange hat das Kirchengebäude Identität gegeben. Aber auch im digitalen Raum haben wir Räume, nur andere. Es sind neue Identitäts­ bildungsprozesse im Gange und wir müssen grosszügiger werden in unserem Kirchenver­ ständnis. Werden Kirchengebäude irgendwann durch digi- tale Netzwerke ersetzt? In den Kirchengebäuden treffen sich immer noch viele Menschen. Darum hoffe ich, dass die Kirchengebäude und auch die Kirche als Institu­ tion nicht einfach verschwinden. Aber die Kirche wird kleiner werden. Und dafür vielleicht dyna­ mischer und agiler. Kann die Digitalisierung den Mitgliederschwund also nicht aufhalten? Nein, ich denke nicht. Natürlich hoffe ich, dass der Mitgliederschwund nicht so schnell geht. Aber anstatt auf Mitgliederzahlen sollte man sich auf Netzwerkbildung und religiöse Bildung fokussie­ ren. Wichtig ist zu zeigen, was die Kirche ist, wo­ für sie steht, wie sie mit den Menschen zusammen­ arbeitet. Aus meiner Sicht ist eine kleinere, aber dynamische Kirche nicht weniger gesellschaftlich relevant. William Temple, der Erzbischof von Can­ terbury, sagte: «The Church is the only society that exists for the benefit of those who are not its members.» © iStock.com /CHBD Was heisst es, als Kirche präsent zu sein im digi- talen Raum? Que signifie être présent en tant qu’Eglise dans l’espace numérique?

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