ENSEMBLE Nr. / N° 52 - Oktober / Octobre 2020

22 Dossier —– ENSEMBLE 2020/52 Am 1. November feiern wir den Visions- sonntag, als Auftakt zum Visionsjahr 2021. Im Zentrum steht der dritte Leitsatz der Vision «Offen für alle – solidarisch mit den Leidenden». Die Botschaft des Synodalrats. Von Claudia Hubacher* Der dritte Leitsatz der Vision hat es in sich. «Offen für alle – solidarisch mit den Leidenden» klingt auf Anhieb für kirchliche Ohren logisch und rich­ tig. Je länger man aber darüber nachdenkt, was diese Aussage bedeuten könnte, je mehr man sich in sie vertieft, desto vielschichtiger kann sie ver­ standen werden. Schon allein die Spannung zwi­ schen den beiden Teilen wirft Fragen auf: Ist das nun ein Widerspruch? Oder eher eine Fokussie­ rung? Die erzeugte Spannung ist widersprüchlich und spannungsvoll zugleich. «Offen für alle» meint keine beliebige Offen­ heit. Eine nach allen Seiten nette Kirche versinkt in der Bedeutungslosigkeit. Vielmehr ist Offenheit die Grundvoraussetzung zur aufrichtigen Wahr­ nehmung, zur Fähigkeit, Leiden zu erkennen, zur Bereitschaft zum Dialog, zum Lernen voneinander, zur Weiterentwicklung – und sie gründet letztlich in der Haltung, niemanden auszuschliessen. Ge­ meint ist ein offener Zugang zu einer Gemein­ schaft, die Werte vermittelt und vertritt und somit allen den Zugang zum Evangelium ermöglicht – aktiv, niederschwellig, aufsuchend und gast­ freundlich. Offen zu sein bedeutet aber auch eine eigene Position einzunehmen und zu wissen, wo man selbst steht, und dies nach aussen glaub­ würdig zu vertreten, ohne zu verurteilen. Die Offenheit vor dem Gedankenstrich zielt auf die Wahrnehmung und das Handeln nach dem Ge­ dankenstrich. Um «solidarisch mit den Leidenden» zu sein und zu handeln, braucht es Empathie. Erkennen wir, wer leidet? Haben wir die Zielgruppen und Einzelschicksale im Blick? Und auch die blinden Flecken? Die Orientierung am Sozialen allein greift zu kurz. Leiden hat viele Formen und Aus­ prägungen, es gilt auch die geistliche Not im Blick zu haben. Von heutigem Leiden sind viele oder sogar wir alle betroffen – denken wir an unsere Erde, ans Klima, an die Menschen in Armut und auf der Flucht sowie an diejenigen, die sich um sie sorgen und kümmern. Was heisst es nun, solidarisch zu sein? Vom diakonischen Auftrag her geht es um Unterstüt­ zung, Beratung, Begleitung und auch darum, prä­ ventiv, vielleicht sogar öffentlich, für Leidende einzustehen. Im diakonischen Sinn geschieht dies in der Hilfe zur Selbsthilfe, auf gleicher Augen­ höhe und mit Beteiligung der Benachteiligten – nicht für sie, sondern mit ihnen. Sich für Schwä­ chere einzusetzen, bedeutet, sich für alle ein- zusetzen, denn von einer gerechten, solidarischen Gesellschaft profitieren alle. Fragt sich nur noch, ob diese «Offenheit für alle» auch Grenzen hat? Gibt es Ausschlussgründe für offene Türen und Solidarität? Diese Gewissens­ frage kann wohl nur jede und jeder für sich per­ sönlich beantworten. Der Synodalrat wünscht Ihnen eine wache Wahrnehmung, erkenntnisreiche Diskussionen, empathische Entdeckungen und Begegnungen, offene Türen, die niemanden aussen vor lassen, und auch geöffnete Fenster mit Blick auf unge­ wohnte und ungeahnte Lebenswelten anderer Menschen. Mögen Sie dabei der Bedeutung, die der Leitsatz «Offen für alle – solidarisch mit den Leidenden» für Ihre eigene Kirchgemeinde ent­ faltet, auf die Spur kommen und dem Leitsatz nachhaltige Wirkung verleihen. Materialien für den Visionssonntag: vision.refbejuso.ch/visionssonntag V I S I O N S S O N N T A G 2 0 2 0 Niemanden aussen vor lassen ©www.pfuschi-cartoon.ch * Synodalrätin der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn, Departement Sozial-Diakonie

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