ENSEMBLE Nr. / N° 49 - Juni / Juin 2020

17 ENSEMBLE 2020/49 —– Dossier Menschen Ritualbegleiterinnen und -begleiter anfragen, die ihre Freiheit weniger einschränken als wir. Die Logik des religiösen Marktes greift längst – die Frage ist, wie wir im Dienste einer gelingenden Kommunikation des Evangeliums angemessen darauf reagieren. Was würden sie einer Gemeindepfarrerin ant­ worten, die einer Kasualagentur vorwirft, ihr An- gebot nehme den Kirchgemeinden etwas weg, was zu ihrem Wesen gehört? Inwiefern profitieren die Kirchgemeinden von einer Kasualagentur? Eine Kasualagentur sollte den Kirchgemeinden nichts wegnehmen, sondern deren Angebot er­ gänzen: indem sie einen Zugang schafft für die vielen Menschen, die nicht mehr erreicht werden. Sie erfüllt eine Aufgabe, die die Kirchgemeinden nur bedingt erfüllen können: flexibel auf indivi­ duelle Wünsche im Hinblick auf die Gestaltung von Kasualfeiern reagieren und die Zielgruppen­ arbeit verstärken. Dies ist mit dem pfarramtlichen Alltagsgeschäft aus meiner Sicht nur schwer zu vereinbaren. Ausserdem kann es als hilfreich er­ lebt werden, bei Überbelastung etwa eine Trau­ ung am anderen Ende des Kirchengebiets an die Kasualagentur zu delegieren. Wie stellen Sie sich die kirchliche Kasualpraxis in zwanzig Jahren vor? Ich denke, es wird immer Menschen geben, die sich für Kasualien an ihre Gemeinde wenden. Aber diese Zahl wird kleiner werden. Daneben wird es wohl in allen grösseren Städten so etwas wie Kasualagenturen geben, die den Zugang zu Reli­ gion und Kirche für andere Menschen ermög­ lichen. Das wird eine spannende Zeit und ich bin dankbar dafür, dass wir sie gestalten dürfen. dabei unterstützen und vernetzen. Eine Kasualagentur wäre also zum einen eine zentrale Anlaufstelle, die leicht erreichbar und im Internet gut auffind­ bar ist, und sie würde gleichzeitig ein Netz von spezialisierten Pfarrpersonen aufbauen, Musikerinnen vermitteln, schöne Hochzeitskirchen anbieten und gewissermassen als kirchliche «Ritual­ begleitungsagentur» auftreten. Aber haben Tauf-, Hochzeits- und Bestattungszeremonien nicht auch et- was mit Zugehörigkeit zu einer konkre- ten Kirchgemeinde zu tun? Führen Kasualagenturen nicht letztlich dazu, dass wir zu einem Dienstleistungs­ betrieb für die Bedürfnisse der Leute werden und unsere eigene Identität preisgeben? Für einige Menschen ist es so: Sie werden als Kind getauft und binden sich im Lau­ fe ihres Lebens an eine Gemeinde. Für viele Men­ schen jedoch und auch für jüngere Generationen ist dies immer weniger der Fall. Es gibt eine be­ achtliche Zahl an Menschen, die eine grosse Offen­ heit für Religion und Kirche mitbringen, jedoch keine Kirchgemeinde als religiöses Zuhause ha­ ben. Um diesen sehr hohen Prozentsatz unserer Mitglieder bemühen wir uns in der Regel recht wenig. Wir gehen als Pfarrpersonen häufig von unserer eigenen religiösen Sozialisation aus – das führt aber zu Kommunikationsproblemen, die wir uns nicht länger leisten können, wenn man die Abbrüche in der religiösen Tradierung betrachtet. In der Nordkirche lassen nur noch etwa 60 Prozent der Familien mit mindestens einem evangelischen Elternteil ihr Kind taufen. Und zur Frage nach der Identität: Die Wege des Glaubens und des religiö­ sen Ausdrucks sind und waren immer verschieden. Gemeinden sind dazu sehr wichtig, aber eben nicht die einzige religiöse Lebensform. Könnte eine Kasualagentur, die nach Angebot und Nachfrage funktioniert, nicht auch Konkurrenz und Neid unter Pfarrerinnen und Pfarrern fördern? Sollen wir uns dieser Marktlogik wirklich unter- werfen? Auch diese Frage zeigt, wie stark wir von unserer eigenen Perspektive geprägt sind und da­ bei Gefahr laufen, die Perspektive unserer Kirchen­ mitglieder aus den Augen zu verlieren. Jesus hat die Frage umgedreht und gefragt: «Was willst du, dass ich dir tun soll?» Faktisch sehen wir bei Kasualien bereits heute oft, dass die Leute die Pfarrperson aussuchen wollen. Wenn wir nicht bereit sind, uns stärker nach der Vielfalt der unter­ schiedlichen Gaben auszurichten, werden die © iStock.com /gustavofrazao Digitale Zugänge zu Kasualien: ein Gebot der Stunde? L’accès numérique aux actes ecclé­ siastiques: un impératif de notre époque?

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