ENSEMBLE Nr. / N° 28 - Mai 2018

4 Dossier —– ENSEMBLE 2018/28 Wahrheit ist ein hohes Gut. Doch was macht sie aus? Kann Wahrheit ohne Lüge existieren? Und wie viel Wahrheit ertragen wir überhaupt? Eine Herleitung aus ethischer und theologischer Sicht. Von Frank Mathwig* Nüchtern betrachtet hatte Jesus den Mund ganz schön vollgenommen, als er behauptete «Ich bin [ ...] die Wahrheit» (Joh 14,6). Bereits Pilatus konter­ te die Erklärung Jesu, «für die Wahrheit Zeugnis» abzulegen, mit seiner berühmten Frage: «Was ist Wahrheit?» (Joh 18,34) Die Frage macht auf zwei Komplikationen aufmerksam: erstens die sach­ lichen Probleme mit der Wahrheit und zweitens die anarchistische Grammatik Jesu. Denn der poli­ tische Beamte hatte sprachlich korrekt nach dem «Was» der Wahrheit gefragt, Jesu Äusserung aber liest sich wie eine Antwort auf die grammatikalisch verrückte Frage nach dem «Wer» der Wahrheit. Wie viel Wahrheit ist nötig? Wahrheit begegnet im Alltag vor allem in der Frage nach ihren Grenzen: Soll die Ärztin dem sterbenskranken Patienten die «ganze Wahrheit» über seine Krebserkrankung mitteilen? Muss der Kirchgemeinderat das Versteck der von Ausschaf­ fung bedrohten Flüchtlinge den Behörden ver­ raten? Sind Adoptiveltern verpflichtet, ihr Kind über seine wahre Herkunft aufzuklären? Muss die Politik lügen, wenn die Sicherheit oder schwer­ wiegende Interessen des Landes auf dem Spiel stehen? Wie viel Wahrheit ist nötig und wie viel Unwahrheit soll erlaubt sein? Zweifellos ist Wahrheit ein hohes Gut, etwa vor Gericht. Der englische Ausdruck für Gerichts­ urteil heisst «verdict» und ist zusammengesetzt aus den lateinischen Wörtern «verus» (wahr, wirk­ lich, echt) und «dictum» (Wort, Spruch, Äusse­ rung). Aber natürlich wissen alle, dass Gerichts­ verfahren der Wahrheit allenfalls auf die Spur kommen können. So pervers es klingt: Wahrheit ohne martialische Drohungen – Erpressung oder Folter – steht bei Licht betrachtet eher auf schwa­ chen Füssen. Nach bestem Wissen Unverzichtbar erscheint Wahrheit eher in ein­ fachen Zusammenhängen, etwa bei der Frage einer ortsfremden Person nach dem Weg zum Bahnhof. Wahr ist eine Antwort genau dann, wenn sie die Person tatsächlich zum gewünschten Ziel führt. Entsprechend hat Thomas von Aquin von der Wahrheit als «adaequatio intellectus in rei» gesprochen: Wahrheit ist die Übereinstimmung von Verstand (Routenbeschreibung) und Sache (Weg zum Bahnhof). Natürlich kann sich die ge­ fragte Person irren. Entscheidend für ihre Wahr­ haftigkeit ist aber, dass sie nach bestem Wissen geantwortet hat. Dort, wo Wahrheit wehtun kann, wird sie zu einer verhandelbaren Grösse: Das Vorenthalten des tatsächlichen Krankheitszustands gewichtet die Belastungssituation für den Patienten höher als die Mitteilung über seinen wahren Zustand. Der Kirchgemeinderat verschweigt die Wahrheit, um die Flüchtlinge vor ihrer Ausschaffung zu schützen. Das Wohl des Kindes hat Vorrang vor der Wahrheit über seine Eltern. Und der Staat ordnet das Wahrheitsgebot seinen politischen In­ teressen, Schutz- und Erhaltungspflichten unter. Die Welt will belogen werden Die Volksweisheit «Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht» ist bereits selbst eine Lüge. Das Umge­ kehrte trifft zu: Die Welt will belogen werden. Wir WAHRHEIT? IM PRINZIP JA, ABER . . . WAHRHEIT UND WAHRHEITSANSPRÜCHE LA VÉRITÉ? EN PRINCIPE OUI, MAIS… LA VÉRITÉ A SES EXIGENCES * Beauftragter für Theologie und Ethik des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc3MzQ=