ENSEMBLE Nr. / N° 34 - Dezember / Décembre 2018

4 Dossier —– ENSEMBLE 2018/34 Menschen am Rande leben bei uns inmitten des Reichtums. Sie sind drinnen und doch draussen. Wie kommt das? Was machen sie aus dem, was die Gesellschaft aus ihnen macht? Und wie gehen wir mit ihnen um? Von Ueli Mäder* Ich sprach im Rahmen einer Machtstudie (Mäder 2015) mit einem Wirtschaftsanwalt, der dann einen dringlichen Anruf erhielt. Ein Kunde von ihm suchte Rat. Er hatte soeben, das Handy am Ohr, einen Autounfall verursacht. Und jetzt? Der Anwalt empfahl ihm, das Handy verschwinden zu lassen und der Polizei zu sagen, ein Laster habe ihn überholt und abgelenkt. Aber warum schum­ meln, Ehrlichkeit währt doch längsten? Nein, finanzielle Kalküle sind zeitgemässer und sogar in sozialen Einrichtungen prioritär. Nina Looser (2017) beobachtete einen alten Mann, der zu Boden fiel und sich dabei verletzte. Sie alarmierte den Notfalldienst und das Altersheim, in dem der Ver­ unfallte wohnt. Die Person, die den Anruf ent­ gegennahm, kommentierte spontan: «Oh, das kostet wieder.» Sie dachte zuerst ans Geld. Die skizzierten Beispiele deuten einen Paradig­ menwechsel an. Wie der frühere Führungswechsel beim Pharmakonzern Novartis. Auf soziale Gegen­ sätze angesprochen, fragte Verwaltungsratspräsi­ dent Daniel Vasella, was dabei problematisch sei. Das dynamisiere doch unsere Gesellschaft. Sein Vorgänger, Alex Krauer, befürchtete hingegen, dass die Kluft den sozialen Zusammenhalt gefährdet. Er plädierte für einen Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit. Eine starke Wirtschaft benötige ein demokratisches Korrektiv und verbindliche Rah­ menbedingungen. Heute dominiert jedoch eine finanzgetriebene Sicht, die soziale Gegensätze legitimiert. Sie überlagert das politisch-liberale Verständnis und ökonomisiert unsere Lebens­ welten. Wellness-Oasen statt Quartierläden Der Schriftsteller Alex Capus (2016) typisiert, wie Dörfer ihre letzte Kneipe schliessen und das Schul­ haus veräussern. Sie unterhalten keine Bibliothek und keinen Gesangsverein mehr. Das Nagelstudio ersetzt den Schmied, die Wellness-Oase den Quar­ tierladen. Seit 1989, dem eigentlich erfreulichen Bruch der Berliner Mauer, drängt das Kapital of­ fensiver dorthin, wo es sich optimal verwerten lässt. Mit der finanzgetriebenen Politik verschärft sich erstens die strukturelle Erwerbslosigkeit. Zweitens steigen die Kosten für die Lebenshaltung rascher als Teile der unteren Löhne. Drittens orien­ tiert sich die soziale Sicherheit an der Erwerbs­ arbeit und an «Normalbiografien», die neue Le­ benslagen vernachlässigen. Und viertens sind die stark steigenden Vermögen einseitig privatisiert. Die Gesellschaft polarisiert sich. Geld ist zwar ge­ nug vorhanden, es hapert aber mit der Verteilung. Nach Abstrichen bei der Arbeitslosen- und Invali­ denversicherung klopfen heute mehr Bedürftige bei der Sozialhilfe an, die ebenfalls Mittel kürzt. Selbiges geschieht bei den Ergänzungsleistungen. Egal, was es kostet. Die finanzgetriebene Politik ignoriert den hohen Nutzen sozialer Ausgaben. Prekäre Lagen Prekäre Lagen entstehen, wenn soziale Verhält­ nisse erodieren. Dann sind Betroffene von Provi­ sorien abhängig. Flexibilität ist der neue Impera­ AM RANDE ODER MITTENDRIN? GESELLSCHAFTLICHE AUSGRENZUNG EN MARGE OU À L'INTÉRIEUR? EXCLUSION SOCIALE * Ueli Mäder ist Soziologe und emeritierter Professor an der Universität Basel. Seine Schwerpunkte sind die soziale Ungleichheit und die Konfliktforschung. Von ihm ist zuletzt erschienen: «68 – was bleibt?» (Rotpunktverlag, Zürich 2018).

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