ENSEMBLE Nr. / N° 71 - Oktober / Octobre 2023

20 Dossier —– ENSEMBLE 2023/71 Lebensrealitäten von Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, sind sehr vielfältig. Ein Gespräch mit Opferberaterin Anna Tanner soll dieser Diversität Rechnung zu tragen versuchen. Von Angela Wagner So unterschiedlich die Schicksale von Betroffenen sein können, eines haben sie oft gemeinsam: «Opfer von genderspezifischer Gewalt stehen oft in emotionaler und ökonomischer Abhängigkeit zur Gewalt ausübenden Person. Dies macht sie besonders vulnerabel», erklärt Anna Tanner. Besteht aufgrund der Gewalterfahrung eine Gefährdung der physischen, psychischen oder sozialen Gesundheit, finden Frauen in hilfegebenden Institutionen Schutz. Bei ihrer Arbeit im Frauenhaus Bern hat Tanner täglich mit Frauen zu tun, die ein Ausmass an häuslicher Gewalt erleben, das eine Auszeit oder einen endgültigen Wegzug aus den eigenen vier Wänden bedingt. Erschwertes Hilfeholen «Eine Befreiung aus der Situation erfordert oft einen radikalen Bruch mit einer Vertrauensperson, mit der man unter Umständen jahrelang zusammengelebt hat. Dies ist ein grosser Schritt», so Tanner. Manche hätten Angst davor, geächtet, ausgeschlossen oder als schwach angesehen zu werden. Andere bekämen durch ihre Familien oder ihre Religion die Werthaltung vermittelt, die gewaltausübende Person nicht verlassen zu dürfen. Sobald Kinder im Spiel sind, sei die Situation zusätzOPFERBERATUNG Betroffenen eine Stimme geben lich erschwert. Zudem könne man die Taten eines Menschen verachten und gleichzeitig noch immer positive Gefühle für ihn empfinden. Ein Wegzug ist oft mit grosser Unsicherheit verbunden und Betroffene stellen sich Fragen wie: Wo werde ich wohnen? Werde ich arbeiten können? Kann ich überhaupt in der Schweiz bleiben? Was passiert, wenn er mich findet? Selbstvertrauen stärken Für Tanner ist klar: «Ich ergreife Partei für die hilfesuchende Frau und hinterfrage nicht, wie es zu dieser Situation gekommen ist.» Aussagen wie: «Du hättest ihn halt nicht provozieren sollen» würden niemandem helfen. Damit Opfer von häuslicher Gewalt ihr Selbstvertrauen zurückgewinnen könnten, müsse die Person unbedingt ernst genommen werden. «Ich mache oft die Erfahrung, dass Betroffene sehr hilflos sind und um Hilfe bitten. Meine Aufgabe ist es aber, die Frauen zu ermutigen und sie so weit zu unterstützen, dass sie es selber schaffen können», ist Tanner überzeugt. So werde die Handlungsfähigkeit von Betroffenen gefördert und durch Erfolgserlebnisse kann neues Selbstvertrauen geschöpft werden. Mehr Gleichberechtigung «Wir haben die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern noch nicht erreicht», stellt Anna Tanner fest, und sieht in der Aufrechterhaltung von Machtgefällen häufige Gründe für Gewalt. Gewalt stehe oft in Zusammenhang mit Stressfaktoren wie Armut, Rassismus oder Diskriminierung. «Unser Ziel muss es sein, als Gesellschaft Gerechtigkeit zu schaffen – damit könnten wir viele Probleme lösen», ist Tanner überzeugt. Bis dahin sei es noch ein weiter Weg. Es gebe viele Opfer von Gewalt, die oft aber nicht als solche wahrgenommen würden. Sensibilisierung ist Tanner deshalb ein grosses Anliegen. «Wir müssen uns als Gesellschaft bewusst sein, was Gewalt ist und wo man Hilfe holen kann; als Opfer, wie auch als Täter.» Anzusetzen sei die Präventionsarbeit schon früh: «Bereits Kinder sollten lernen, was Grenzverletzungen sind, wie man eine gesunde Beziehung führt und wie man Konflikte löst.» Wenn man vermute, eine Person im Umfeld könnte von Gewalt betroffen sein, solle man dies unbedingt ansprechen – auf behutsame und einfühlsame Weise, so Tanners Rat. «Wir dürfen nicht wegschauen. Nur so können wir Missstände aufdecken und als Gesellschaft weiterkommen.» Anna Tanner © zVg

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