ENSEMBLE Nr. / N° 67 - September / Septembre 2022

4 Doss i er —– ENSEMBLE 2022 /67 VOM KRIEG ZUM FRIEDEN CHRISTLICHE FRIEDENSETHIK BIETET ORIENTIERUNG DE LA GUERRE À LA PAIX L’ÉTHIQUE CHRÉTIENNE DE LA PAIX OFFRE UN POINT DE REPÈRE Wann dürfen Personen und Staaten Gewalt anwenden? Was sollen die Kirchen angesichts des Ukraine-Kriegs tun? Was ist ein gerechter Friede? Wie kann er erreicht werden? Christine Schliesser, Privatdozentin für Systematische Theologie an der Universität Zürich und Studienleiterin am Zentrum Glaube und Gesellschaft der Universität Fribourg, und Dieter Baumann, promovierter Theologe in Militärethik und Berufsoffizier, geben Antworten. Von Mathias Tanner* In der Ukraine herrscht Krieg, Menschen töten Menschen. In welchen Fällen darf eine christliche Person Gewalt anwenden? Dieter Baumann: Im Zentrum der christlichen Botschaft stehen Gewaltverzicht sowie Nächsten- und Feindesliebe. Aber ein Christ oder eine Christin darf in seiner bzw. ihrer Funktion als Soldat oder Soldatin Gewalt anwenden, wenn es der legitimen Rechtserhaltung oder der Rechtsdurchsetzung dient. Und das beinhaltet im äussersten Notfall auch tödliche Gewalt. Denn Recht ohne Sanktionsmittel ist wirkungslos. Militärangehörige dürfen dabei aber keine Befehle ausführen, die gegen Landes- oder Völkerrechte verstossen. Christine Schliesser: Da könnte man noch einen Gedanken aus der reformatorischen Theologie ergänzen. Martin Luther sagte, wenn ich selbst angegriffen werde, dann muss ich stillhalten, also auch noch die andere Wange hinhalten. Wenn ich aber sehe, dass mein Nachbar unterdrückt wird und gefährdet ist, dann habe ich die christliche Pflicht einzugreifen, gegebenenfalls auch mit Gewalt. Notwehr wird zu einem Akt der Nächstenliebe. Es gibt Christinnen und Christen, die am Prinzip des Gewaltverzichts festhalten und deshalb den Militärdienst verweigern. Wie sehen Sie das? C.S.: Besonders die protestantische Tradition hält die Gewissensfreiheit hoch. Ob jemand Militärdienst leistet oder nicht, ist eine Entscheidung, die dem individuellen Gewissen zuzuschreiben ist. D.B.: In der Schweiz sagt das Gesetz, wer aus Gewissensgründen keinen Militärdienst leisten will, hat eine Alternative in Form des zivilen Ersatzdienstes. Ich finde das eine gute Lösung. In welchen Fällen darf ein Staat Gewalt anwenden? D.B.: Hier geht es um gerechten Krieg und legitime Gewaltanwendung. Diese Fragen haben schon die Kirchenväter umgetrieben. So fragte sich Ambrosius, ob jemand, der sich nicht gegen das Unrecht wehrt, das einem Nächsten angetan wird, sich nicht mitschuldig macht. Sein Schüler Augustinus hat die «Lehre vom gerechten Krieg» entwickelt, Thomas von Aquin hat sie systematisiert. Das Ziel der Lehre war es, Regeln einzuführen, damit weniger Krieg geführt wird und im Krieg weniger Unrecht geschieht. Die Lehre besagt, für einen gerechten Krieg braucht es (1) eine legitime Obrigkeit, (2) einen gerechten Grund, (3) eine gerechte Absicht, (4) eine Verhältnismässigkeit der Mittel, (5) Krieg sollte die Ultimo Ratio sein und (6) dem Ziel des Friedens dienen. Was bedeutet dies für den Krieg in der Ukraine? D.B.: Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist klar ein Bruch des Völkerrechts. Die UNO-Charta hält fest, dass es kein Recht auf Krieg gibt, dass Konflikte friedlich gelöst werden sollen. Der ukrainischen Armee blieb gar nichts anders übrig, als sich zu verteidigen. Die Verteidigung gegen einen Angriff wird in der UNO-Charta als legitimer Grund für einen Krieg aufgeführt. Es geht hier um das legitime Recht auf Selbstverteidigung, bis die * Mitarbeiter OeME-Migration und Kommunikationsdienst

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