ENSEMBLE Nr. / N° 67 - September / Septembre 2022

28 Fokus —– ENSEMBLE 2022 /67 Menschenhändlern oder in eine Ausbeutungssituation geraten. Stellen Sie sich vor, eine höchst traumatisierte Frau wird nach Mailand ausgeschafft. Dort steht sie vielleicht abends am Bahnhof, kann weder die Sprache noch hat sie Geld – und kennen tut sie auch niemanden. So vulnerabel und auf Hilfe angewiesen ist das Risiko gross, dass sie wieder Opfer von Ausbeutung und Gewalt wird. Müsste die Schweiz diese Menschen nicht besser schützen? Doch, klar. Aufgrund mehrerer Gerichtsentscheide muss das SEM in einigen Fällen auch sogenannte «Garantien» beim Dublin-Land einholen. Nur: Diese beschränken sich in der Regel auf die Frage, ob der Zugang zum Asylsystem oder eine Unterkunft und die theoretische Möglichkeit bestehen, eine Opferhilfestelle oder die Polizei vor Ort aufzusuchen. Dann kommt die Frau eben immer noch allein in Mailand am Bahnhof an und wird von ihr erwartet, dass sie sich allein durchschlagen kann. Wie kann das Projekt der FIZ die Betroffenen unterstützen? Dank finanzieller Unterstützung der Kirchen können wir die Menschen, die im Ausland Opfer von Menschenhandel wurden, ambulant bei uns beraten. Konkret heisst das, dass wir mit ihnen psychosoziale Beratungen durchführen und sie über ihre Rechte aufklären. Da Menschenhandel komplex und die Identifizierung ein Prozess ist, versuchen wir auch zu eruieren, was genau passiert ist, und verfassen dann einen Einschätzungsbericht zuhanden der Rechtsvertretung, der ins Asyldossier mit einfliesst. Dies beeinflusst zum Teil auch, ob ein Dublin-Entscheid gefällt wird oder nicht. Das beschleunigte Asylverfahren ist aber aufgrund des hohen Zeitdrucks für Opfer von Menschenhandel problematisch, weil es Zeit benötigt, Vertrauen aufzubauen und den Sachverhalt zu klären. Wenn eine Person dennoch weggeschickt wird, versuchen wir zumindest herauszufinden, wann und wohin die Person ausgeschafft wird. Sodass eine Partnerorganisation die Person dann am Bahnhof abholen und Unterstützung organisieren kann. Warum werden ausgerechnet so viele Flüchtende Opfer von Menschenhandel? Das hat auch viel mit unserer Abschottungspolitik in Europa zu tun: Gäbe es legale und damit Asylsuchende, die im Ausland Opfer von Menschenhandel wurden, erhalten in der Schweiz kaum Schutz. Wie ein kirchlich finanziertes Projekt dies ändern will. Von Selina Leu* Géraldine Merz, Sie sind Leiterin des Projekts «Umfassender Schutz für Betroffene von Menschenhandel im Asylbereich» der Fachstelle für Frauenhandel und Frauenmigrat ion (FIZ) . Warum braucht es ein Projekt, das explizit Menschen mit Fluchtgeschichte unterstützt? Viele Menschen werden auf ihrer Flucht Opfer von Menschenhandel. Geraten Menschen in der Schweiz in die Fänge von Menschenhändlern, erhalten sie dank dem Opferhilfegesetz Zugang zu Unterstützungsmassnahmen. Liegt der Tatort im Ausland, erhalten sie keinerlei staatliche Hilfe. Welche Unterstützungsangebote wären für die asylsuchenden Betroffenen dienlich? Dieselben wie für alle Opfer von Menschenhandel: Zugang zu spezialisierter Unterbringung, Beratung, Übersetzung und materieller und medizinischer Nothilfe. So wie dies die Europaratskonvention zur Bekämpfung des Menschenhandels (EKM) vorschreibt. Und so wie dies andere europäische Staaten auch gewährleisten – unabhängig vom Tatort. Was passiert heute in der Schweiz mit Opfern von Menschenhandel, die im Ausland rekrutiert und ausgebeutet wurden? Besteht der Verdacht auf Menschenhandel, führt das Staatssekretariat für Migration (SEM) zwar eine vertiefte Anhörung zum Sachverhalt durch. Für die Betroffenen ist diese Befragung in vielen Fällen eine zusätzliche Belastung, da sie das Erlebte unter hohem Druck erneut erzählen müssen. Anschliessend fällt das SEM einen Asylentscheid wie bei jeder anderen gesuchstellenden Person auch. Dies ist vor allem für Menschen, die als sogenannte «Dublin-Fälle» gelten, problematisch: Weil ein anderer Staat für ihr Asylgesuch zuständig ist, erhalten sie in der Regel rasch einen Wegweisungsentscheid ins Dublin-Land. Und dann? Einmal mittellos und ohne Adressen von Hilfestellen ausgeschafft, ist die Chance gross, dass die Betroffenen rasch wiederum in die Fänge von M E N S C H E N H A N D E L Ohne Staat kein Ausweg

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