ENSEMBLE Nr. / N° 65 - Mai / Mai 2022

27 ENSEMBLE 2022 /65 —– Fokus oder eine ganze Saison mitmachen. Einige kommen sogar aus dem Ausland. Oft handelt es sich um sehr engagierte Aktivistinnen und Aktivisten, deren Unterstützung vom Verein gebührend geschätzt wird. Die mobilen nächtlichen Suchaktionen sind für die Freiwilligen sehr anstrengend. «Es ist psychologisch schwierig, denn wir werden mit Gewalt konfrontiert. Es ist unerträglich mitzuerleben, wie die Leute wie Tiere in den Bergen gejagt werden, es ist schwierig, die Angst in ihren Augen und vor allem die Angst in den Augen der Kinder zu sehen. Das wühlt auf, das ist empörend und schwer zu ertragen», betont Michel Rousseau. Um an den Patrouillen teilnehmen zu können, muss man sich in den Bergen auskennen, man muss sich im Schnee bewegen, sich in der Nacht orientieren und die Kälte aushalten können. «Das ist nicht jedermanns Sache.» Man muss zudem auf Polizeikontrollen gefasst sein, die Polizei nimmt nämlich auch die Freiwilligen ins Visier. Über hundert von ihnen wurden bereits angehalten, manchmal befragt oder auch in Gewahrsam genommen und beschuldigt, sie hätten illegale Einwanderer unterstützt. Gegen dreissig Freiwillige wurde Anklage erhoben, einige davon wurden zu Bussen oder Gefängnisstrafen auf Bewährung verurteilt. Gross angelegte Suchaktion Am vergangenen 12. März nahmen über 300 Personen an einem solidarischen Grossanlass am Col du Montgenèvre teil. Mehrere Vereine (aus Calais, der Roya und dem Baskenland) haben die Veranstaltung unterstützt, die alljährlich im Frühling organisiert wird, um die breit engagierte Bevölkerung zu sensibilisieren und zu informieren. Pâquerette Forest aus Briançon ist Bergbegleiterin und war mit dabei. «Es ging alles gut. Wir konnten Flüchtlinge aufnehmen, die wir in Fahrzeugen der Organisation ‹Ärzte der Welt› talwärts gebracht haben, vor den Augen der Polizei. Wir mussten Verhandlungen führen und Identitätskontrollen über uns ergehen lassen, aber letztlich konnten wir die Flüchtlinge in die Auffangstelle bringen.» Die pensionierte Lehrerin ist schon seit Beginn bei den Suchaktionen dabei. Als Motivationsgrund nennt sie die Solidarität in den Bergen. «Es ist wie bei den Seeleuten, man lässt Menschen nicht im Meer sterben», betont Pâquerette. Die Freiwilligen müssen mit Einschüchterungsversuchen vonseiten der Polizei rechnen und werden nicht selten überwacht. «Manchmal werden wir bis zu uns nach Hause verfolgt. Wollen wir keine Bussen einfangen, darf unser Auto nicht den geringsten Mangel aufweisen.» Anfangs waren die Voraussetzungen anders. Die Freiwilligen fanden sich mit Tourenskis am Col de l’Echelle ein und sicherten junge Ostafrikaner. Nun finden die Aktionen am Montgenèvre statt und die Helferinnen und Helfer treffen dort auf Flüchtlinge aus Afghanistan oder dem Iran, darunter viele Familien, schwangere oder betagte Frauen und Säuglinge. Sensibilisierung Die Freiwilligen nehmen verschiedene Aufgaben wahr: Sicherung der Flüchtlinge, Risikoprävention, aber auch Beobachtung der polizeilichen Praxis. So haben Mitglieder von «Tous Migrants» die Abschiebung von Minderjährigen in Italien kritisiert, seitdem seien diese Abschiebungen seltener geworden, erwähnt Pâquerette. Ebenfalls rückläufig sind Diebstähle von Geld und Mobiltelefonen sowie die Vernichtung von Dokumenten. Alles in allem verbessert sich die Situation aber nicht. Seit Anfang 2021 ist sie in der Auffangstelle in Briançon sogar zunehmend untragbar geworden: Pro Woche kommen bis zu 300 Personen neu dazu. Da der Platz fehlt, müssen Flüchtlinge manchmal sogar draussen übernachten. Die entsprechenden Hilferufe an die Behörden bleiben während Monaten unbeantwortet. «Wir möchten, dass sich etwas bewegt. An der Grenze werden klar Rechte verweigert, und zwar nicht nur die grundlegenden Rechte, sondern auch das Asylrecht, und es kommt zu illegalen Ausschaffungen.» «Es gibt Menschen, die will man nicht hier haben. Es werden Menschen aussortiert. Man lässt Menschen sterben, und man drängt sie mit militärischen Mitteln zurück. Das ist Barbarei», empört sich Michel Rousseau. Angesichts des Kriegs, den Putin in der Ukraine führt, setzen sich Frankreich und die anderen europäischen Länder heute dafür ein, die Menschen, die vor diesem Krieg flüchten, aufzunehmen. «Tous Migrants» begrüsst dieses solidarische Engagement. Der Verein hofft aber, dass diese politischen Entscheide auch einen deutlichen Wendepunkt im Hinblick auf die Aufnahme sämtlicher Flüchtlinge darstellen – unabhängig davon, woher sie kommen. © Juliette Pascal Solidarität in den Bergen bedeutet: Man lässt die Menschen nicht einfach erfrieren oder abstürzen. La solidarité en montagne signifie qu’on ne laisse pas les gens mourir de froid ou faire des chutes dangereuses.

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