ENSEMBLE Nr. / N° 63 - Januar / Janvier 2022

4 Doss i er —– ENSEMBLE 2021 /63 PSYCHISCHE GESUNDHEIT JEDER WEG IST INDIVIDUELL SANTÉ PSYCHIQUE CHAQUE CHEMIN EST UNIQUE Nicht alle Menschen reagieren gleich auf Druck und Stress: Manche entwickeln Widerstandsfähigkeit, andere leiden darunter. Und wenn es ums Erkennen von psychischen Krankheiten geht, sind gemäss Experten viele «Analphabeten». Von Helena Durtschi Sager* Ein Grund, achtsam zu sein. Bruno war international tätig. Erfolgreich im Beruf, gut vernetzt. Die Gespräche mit ihm, diesem weitgereisten Geschäftsmann, waren anregend. Dann kam plötzlich alles anders. Kurz nach seiner Pensionierung wurde seine Frau krank und starb unerwartet schnell. Wenig später hatte Bruno einen Herzinfarkt. Dem Herzinfarkt folgte ein Hirnschlag. Von da an war Bruno einseitig gelähmt. Knapp zwei Jahre hat er mit dieser Behinderung gelebt. Nun ist er tot. In Köln, mitten im Krieg, kam er als Frühgeburt auf die Welt. Während der Bombardierungen musste ihn die Mutter allein in der Wohnung zurücklassen. Er hatte Asthma und hätte einen Aufenthalt im Luftschutzkeller wohl nicht überlebt. Knapp 15 Personen haben sich heute in der Kapelle versammelt: der Bruder mit Familie, ein paar Nachbarn, die Haushälterin und ich als entfernte Verwandte. Nach der Abdankung komme ich mit der Haushälterin ins Gespräch. Sie erzählt aus dem Alltag mit Bruno, wie sie ihn betreut hat, wo sie helfen musste, erzählt von seinen Depressionen, die ihn zunehmend heimgesucht haben. Vulnerabel und resilient Wir starten unser Leben mit unterschiedlichen Voraussetzungen und haben unterschiedliche Res- * Pfarrerin und Sozialarbeiterin, Fachmitarbeiterin Bereich Sozial-Diakonie sourcen, um die Herausforderungen des Lebens zu bewältigen. Für Bruno standen Leistung und Arbeit im Zentrum, sie gaben ihm Identität, Sicherheit, hier bekam er Wertschätzung. Mit beruflichen Belastungen konnte er umgehen, doch den Tod seiner Frau hat er nie verkraftet, und nachdem er halbseitig gelähmt war, wollte er nicht mehr leben. Psychosoziale Entwicklungsbedingungen und das, was uns von Geburt mitgegeben wird, entscheiden oft darüber, wie wir mit Krisensituationen umgehen können. Kritische Lebensereignisse und frühe Stresserfahrungen können Spuren im Hirn hinterlassen, so dass die sogenannte Erkrankungsbereitschaft steigt. Besonders belastend sind Erfahrungen, in denen sich Betroffene hilflos und ausgeliefert fühlen. Die Psychiatrie braucht hier den Begriff Traumasensibilität. Nicht alle Menschen reagieren gleich. Es gibt Menschen, die verletzlich bleiben und irgendwann im Laufe des Lebens psychisch erkranken, andere entwickeln eine sogenannte Resilienz, die ihnen hilft, schwierige Lebenssituationen gut zu bewältigen. Warum die einen Menschen verletzlicher und andere resilienter sind, weiss man bis heute nicht. Tabu psychische Erkrankungen In seinem Buch «Ganz normal anders» beschreibt der Psychiater Thomas Ihde, dass viele Analphabeten sind, wenn es ums Erkennen von psychischen Erkrankungen bei sich und anderen geht. Sie haben Mühe, sich einzugestehen, dass es ihnen schon seit längerem nicht mehr so gut geht. Ängste, Depressionen, Suchtmittelabhängigkeiten, psychotische Episoden, Zwänge sind etwas Privates, Intimes, darüber wird meistens nicht oder höchstens im engeren Familienkreis gesprochen. Das führt dazu, dass die Tabuisierung auch Familienangehörige psychisch belastet. Gleichzeitig weiss man heute, dass psychische Erkrankungen weit verbreitet sind. Gemäss Studien, die im neus-

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