ENSEMBLE Nr. / N° 63 - Januar / Janvier 2022

13 ENSEMBLE 2021 /63 —– Doss i er schlecht geht, auf seine Selbstmordgedanken anspricht. Das ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil: Darüber zu sprechen, die Frage zu stellen, ermöglicht es, die Gedanken und den Todeswunsch zu zerstreuen. Obwohl eine Realität, ist der Wunsch sehr schwer zu verstehen. Die meisten Menschen, die sich umbringen oder einen Selbstmordversuch unternehmen, leiden unter einer psychischen Erkrankung. Oft genügt es, da zu sein und zuzuhören. Wenn jemand sich allerdings in einer schweren psychischen Krise befindet, so reicht das nicht aus, man muss medizinische Hilfe in Anspruch nehmen. Sind Sie endgültig geheilt? Man wird als geheilt betrachtet, wenn man seit sechs Monaten keine Symptome mehr zeigt. Das ist bei mir nicht der Fall. Ich nehme aber keine Medikamente mehr, ich arbeite, bin aktiv. Letzten Winter trat bei mir eine zweite depressive Episode auf, allerdings weniger lang und weniger stark. Ich hoffe, dass die Krankheit verschwindet. Vielleicht werde ich immer wieder mal in ein Loch fallen und Selbstmordgedanken hegen, sehr heftige emotionale Zustände erleben. Aber alles in allem geht es mir viel besser. Hat die Depression Veränderungen bewirkt? Ja, es führte zu Veränderungen in meinem Leben, vor allem beruflicher Art. Ich engagiere mich jetzt in der Politik (Anm. d. Red.: bei den GRÜNEN Freiburg). Ich bin auch nicht mehr so einfach im Umgang. Viel zu lange habe ich meine Bedürfnisse zurückgestellt, dieser Umstand war auch einer der Auslöser für meine Krankheit. Ich frage mich nun viel öfter, wem und was ich meine Zeit widmen möchte. Ich muss einen Sinn sehen. Ich bin auch wählerischer geworden in meinen Beziehungen. Sprechen Sie von einer Katharsis? Das hat durchaus etwas. Bevor ich krank wurde, verlief mein Innenleben auf der emotionalen Ebene wie eine flache Linie. Ich musste viele Schichten abbauen. Es gab eine Zeit, da hatte ich den Eindruck von einem Reinigungsprozess – mit allem Leiden, das er mit sich bringt. Das hatte nicht zu tun mit Sünde oder mit der Frage, ob ich mich rein oder unrein fühlte. Es war nötig, unklare Dinge und bestimmte Vorurteile aufzulösen, vor allem in Bezug auf mich selbst. Und ich habe viel Arbeit geleistet in Sachen Emotionen. Es ist wie eine Reinigung durch Feuer. Depression und Burnout betreffen heute immer häufiger auch Pfarrerinnen und Pfarrer. Es sind Phänomene, die in vielen Sozialberufen auftreten, etwa bei Sozialarbeiterinnen, Lehrpersonen oder in der Kirche. In diesen Berufen pflegt man oft ein ideales Bild von seiner Aufgabe. Bei den Pfarrerinnen und Pfarrern kommt noch die Konfrontation mit dem Leiden des Nächsten dazu, etwa im Rahmen eines Trauerfalls. Als Pfarrer hat man – anders als etwa ein Psychiater – nur wenige Werkzeuge zur Hand, um Menschen so unterstützen zu können, dass es ihnen besser geht. Die Pfarrerin, der Pfarrer hört zu. Er oder sie kann vielleicht ein Bibelzitat einwerfen, ein Gebet sprechen – darüber hinaus sind sie aber gegenüber dem Leiden des Nächsten machtloser als andere. Wie kann die Kirche den Betroffenen helfen? In der Kirche existiert schon seit längerer Zeit ein Werkzeug: die Supervision, in der Gruppe oder einzeln. Das ist eine Möglichkeit, sich Dinge von der Seele zu reden. In der Freiburger Kirche kann man sich an den für das Pfarramt zuständigen Dekan oder die zuständige Dekanin wenden. Pfarrerinnen und Pfarrer haben oft die Vorstellung, sie müssten nach aussen das Bild einer starken Person abgeben, einer Person, die die Gemeinschaft trägt und die kein Anrecht darauf hat, Schwäche zu zeigen. Die Erste-Hilfe-Kurse für psychische Gesundheit von ensa, welche die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn als erste Kirche überhaupt anbieten, werden von weiteren Reformierten Kirchen ins Programm aufgenommen werden. Die Absicht besteht, die Kurse nicht nur für Berufsleute, sondern auch für Kirchgemeindemitglieder anzubieten. Ist die Depression ein Tabu in der Kirche? Es ist kein Tabu, wenn Mitglieder der Gemeinde betroffen sind. Falls Kirchenpersonal betroffen ist, bin ich mir hingegen nicht so sicher. Nach der Publikation meines Buches haben mich mehrere Kollegen spontan kontaktiert und mir mitgeteilt, dass auch sie unter Depressionen gelitten haben oder immer noch darunter leiden. Sie erzählten mir, dass es ihnen gutgetan habe festzustellen, dass sie nicht allein sind. Ich habe daraus geschlossen, dass es immer noch viele Vorbehalte gibt, diese Realität mit Kollegen zu teilen.

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