ENSEMBLE Nr. / N° 59 - Juni / Juin 2021

22 Doss i er —– ENSEMBLE 2021 /59 Demenz ist eine Krankheit mit vielen Ausprägun­ gen. Sie greift den Verstand einer Person an. Ihre Emotionen und Gefühle bleiben dagegen meist intakt und sind wichtige Ressourcen. Darauf baut das «Haus der Emotionen»: Sinnesoasen und per­ sonalisierte Musik sollen den Bewohnerinnen und Bewohnern ein gutes Leben und Glücks­ gefühle im Hier und Jetzt ermöglichen. Von Gerlind Martin An einem Frühlingsnachmittag imWesten Berns. Zu Besuch im Domicil Kompetenzzentrum Demenz Bethlehemacker: Herr B. sitzt auf einem Stuhl am Fenster. Er wohnt und lebt hier, in diesem Zimmer für zwei Personen. An der Wand hängen Familien­ fotos und Schwingerkalender. Ihm gegenüber sitzt Rosmarie Gerber. Sie ist Aktivierungstherapeutin. Zwischen ihnen steht ein kleiner Tisch, darauf eine Box mit Schallplatten. Es ertönt ein Jodellied, das Rosmarie Gerber von ihrem iPad abspielt. Auf dem Tisch liegt die Plattenhülle. Herr B. hört ver­ sonnen zu, erzählt vom Lueg-Schwinget, summt die Melodie mit. Zuweilen fragt Rosmarie Gerber nach oder fügt etwas an, schmunzelt und lacht mit Herrn B. Das Lied «Der geschenkte Tag» gefällt Herrn B. gut, man solle es auch den anderen Leu­ ten «dusse im Restaurant» vorspielen, «die hätte ou Fröid». Fast unbemerkt kommt eine Frau ins Zimmer, legt ihren Mantel aufs Bett, setzt sich auf einen Stuhl, hört zu. Herr B. möchte «es paar witeri Tön ghöre», am liebsten noch ein Jodellied. Rosmarie Gerber findet rasch das Gewünschte. «Ganz ver­ ruckt», sagt Herr B. fasziniert, «so ungloublech rein u klar die Stimm.» Auch die Besucherin freut sich. Sie kenne das Lied nicht, bestätigt sie die Vermu­ tung ihres Mannes. Und schon sind sie mitten in einem kurzen Gespräch über einen Skilift in einer ihnen bekannten Gegend. Rosmarie Gerber packt zusammen und verabschiedet sich, «bis zum näch­ schte Mal». Herr B. dankt ihr herzlich, besonders für die neuen Lieder, «zwöi Mal sy mir Träne cho». Die persönliche Musikbiografie nutzen So wie Herr B. kommen alle rund 70 Bewohnerin­ nen und Bewohner des Bethlehemacker in den Genuss von musikalischen Erlebnissen. Grundlage ist die individuelle Musikbiografie, die der sozio­ kulturelle Animator Nico Meier und sein inter­ disziplinäres Team mit jeder Bewohnerin, jedem Bewohner und meist zusammen mit Angehörigen erarbeiten und dann als MP3-Player mit Kopfhörer zur Verfügung stellen. Gesucht werden Lieder und Musikstücke, die Erinnerungen hervorrufen, ein Gefühl von innerer Ruhe und Zufriedenheit ver­ mitteln und Ausgangspunkte bieten für Ge­ spräche. Nico Meier hat die 2016 von Domicil ein­ gekaufte amerikanische Methode «Music & Memory» zum Betreuungskonzept «Incanto – mei­ ne Musik, mein Leben» weiterentwickelt. Incanto soll in die Pflegeprozesse integriert werden. Bei­ spiele dafür nennt Remo Stücker, seit 2009 Pflege­ dienstleiter im Bethlehemacker: Vor der Grund­ pflege eingesetzt, können die eigene Musik und die Präsenz der Pflegenden einer Bewohnerin helfen, sich in der gleichen Welt und Zeit einzu­ finden, in der die Pflegende ist; Incanto hilft bei Unruhe, etwa beim Sundown-Syndrom, wenn Be­ GLÜCKSGEFÜHLE IM HIER UND JETZT ZU BESUCH IM «HAUS DER EMOTIONEN» Erinnerungsinseln: Eine Heimbewoh- nerin hört sich gemeinsam mit «Incanto»-Gründer Nico Meier ihre Lieblingsmusik an. Des îles de mémoire: une résidente écoute sa musique préfé- rée en compagnie du fondateur d’«Incanto», Nico Meier. © zVg

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