ENSEMBLE Nr. / N° 49 - Juni / Juin 2020

29 ENSEMBLE 2020/49 —– Kreuz und quer Anton Josi ist als Sozialarbeiter in der Kirch- gemeinde Münsingen angestellt und wird im Juni zum Sozialdiakon beauftragt. Vor seinem schweren Gleitschirmunfall im August 2010 war er selbstständiger Unternehmer und begeisterter Sportler. Das Paraplegikerzentrum Nottwil verliess der heute dreifache Familien- vater zwar als Fussgänger – doch Alltagstätig- keiten mit erhöhter körperlicher Anstrengung sind für den «inkompletten Paraplegiker» kaum zu bewältigen. Von Daria Lehmann Anton Josi, wie nimmt Ihr Umfeld Sie wahr? Viele Leute wissen, dass ich einen Unfall hatte. Da man meine Beeinträchtigung jedoch nicht auf den ersten Blick sieht, gingen zunächst viele von ihnen davon aus, dass ich wieder «gesund» sei. Doch meine Lähmungen auf der Rückseite der Bei­ ne und im Becken sind geblieben. Ich stehe zwar auf den Füssen, aber ziemlich instabil. Meine Fa­ milie nimmt meine körperlichen Beeinträchtigun­ gen stärker wahr. Ich ermüde schnell, kann nicht mehr jedes Bewegungsspiel mitmachen und mir fehlt am Abend die Energie für weitere Aktivitäten. Dürfen Menschen Sie auf Ihre Behinderung an- sprechen? Klar, und wenn sich jemand interessiert, darf auch gerne nachgehakt werden. Oft werde ich eher beiläufig gefragt, ob ich einen Misstritt ge­ macht hätte, weil ich hinke. Wenn ich meine Si­ tuation dann erkläre, löst das beim Gegenüber typischerweise Verunsicherung oder Verwirrung aus. Die Diagnose der «inkompletten Paraplegie»* ist in der Schweiz vielen unbekannt. Wo kommen Ihre besonderen Fähigkeiten zum Ausdruck, wo haben Sie Schwierigkeiten? Eine Behinderung impliziert nicht direkt besondere Fähigkeiten. Es ist eher die Lebenser­ fahrung und die durch einschneidende Lebens­ ereignisse geprägte Lebenseinstellung. Etwas Wesentliches, was ich im Kontakt mit Para- und Tetraplegikern gelernt habe, ist das Lachen über mich selbst. Schwierig ist es für mich, wenn ich mich bei Aufgaben, die körperliches Engagement erfordern, zurückziehen muss. Was gewinnen Kirchgemeinden, die eine Person mit Handicap anstellen? D I E K I R C H E A L S S O Z I A L E A R B E I T G E B E R I N Trotz Lähmung auf den Beinen Ich denke, dass Kirchgemeinden durch einen natürlichen Umgang mit Beeinträchtigten wich­ tige Vorbilder sein können. In Kirchgemeinden, die Menschen mit all ihren Eigenheiten, Verschie­ denheiten und Beeinträchtigungen miteinbezie­ hen, gewinnen alle. Was ist, wenn Menschen mit Handicap weniger leistungsfähig sind? Die Frage ist, was wir unter «Leistung» verste­ hen. Für mich ist die eigentlich wichtige Frage eher, wie wir die Solidarität in der Gesellschaft erhalten und verstärken können. Welchen Wunsch haben Sie an die Kirche? Ich finde, die Kirche engagiert sich gut für die Inklusion von Personen mit Beeinträchtigungen. Das heisst jedoch nicht, dass sie sich den Trends der marktwirtschaftlichen Personalpolitik entzie­ hen kann. Ich wünsche mir eine Kirche, die nahe an den Lebenswelten der Menschen bleibt, sich sozial engagiert und mutig ist. * Mehr Informationen im Artikel «Diagnose: inkomplett» des Magazins «Paraplegie»: www.paraplegie.ch/magazin > Aus­ gabe September 2017. In der Sommersynode 2019 wurde das Postulat Buchter «Die Kirche als soziale Arbeitgeberin von Menschen mit Handicaps» verabschiedet (vgl. www.refbejuso.ch/handicap ) . Um Kirch­ gemeinden für die Thematik zu sensibilisieren, stellt ENSEMBLE in einer losen Serie Menschen mit Handicaps vor, die bei der Kirche arbeiten. Anton Josi ©zVg

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